Flucht.punkt.

kleid

Wenn ich traurig bin, suche ich mir gern Fluchtpunkte.
Fluchtpunkte hatte ich sehr viele, früher. Meist waren es irgendwelche hübschen Geschäfte. Nicht weil ich glaube, dass Materielles glücklich machen kann. Es lenkt mich ab, weil es um Konkretes geht, um Dinge, die einen festen Preis haben, um Dinge, die begreifbar sind.
Mein Lieblings-Bäcker, der stets besonders üppig dekorierte Sahnetorten in der Auslage hat und der die besten Brezeln der Welt macht, die immer ein klein wenig nach Kuchen und süßem Stückle schmecken.
Ein kleiner Wäscheladen, der seine gesamte Ware in Körben und Laden eines altmodischen Küchenbuffets darbietet, und in dem man sich auf den Füßen stand, sobald sich zwei, drei, vier Kundinnen samt Verkäuferin darin aufhielten.
Der Buchladen, der trotz seiner Größe so gemütlich und einladend eingerichtet ist, dass ich oft Stunden darin verbringen und die Zeit vergessen konnte.
Der kleine Bonbon-Laden, winzig in einem schiefen uralten Haus, mit altmodischer Registrier-Kasse und nichts als Bonbons, vom Boden bis zur Decke in Dosen und Gläsern und Kisten gestapelt.
Mein Lieblings-Schuhgeschäft, dessen Inhaber sich weigerte, all diese fürchterlichen modernen spitzen Schuhe zu verkaufen, weil sie die Füße doch nur kaputt machen, der mir von mehr Schuhen abgeraten hat, weil sie nicht zu mir passten oder mir nicht richtig passten, als er mir Schuhe empfohlen und verkauft hat. Und wenn ihm ein Schuh an mir gefiel, klatschte er seine Hände vor dem Gesicht zusammen und rief „Wundervoll!“ Bequemlinge hat er, wunderschöne Bequemlinge. Meine schönsten und ältesten Schuhe sind von ihm.
Der Geigenbauer-Laden eines Schulfreundes, der sich in sein 3 x 3 Meter kleines Schaufenster setzt, Tag für Tag, und Geigen baut und sich zuschauen lässt dabei. Der nur selten aufsieht und lächelt, weil er so vertieft ist in sein Handwerk.
Heute würde ich gerne losziehen, mich ablenken lassen von Konsum und Kommerz. Doch hier, in meiner neuen Heimat, kenne ich keine solchen Fluchtpunkte. Hier scheint es nur große Einkaufszentren mit den üblichen Großhandelsketten zu geben. Die kleinen Fluchtpunkte habe ich noch nicht entdeckt.
Es dauert viele viele Jahre, bis man Lieblingsläden kennt, die man nicht aufsucht mit dem Ziel, etwas zu kaufen, sondern weil sie ein Lebensgefühl vermitteln, eine Begeisterung für ein Handwerk, eine Ware, ein Thema.
Ein halbes Jahr erst lebe ich hier. Ich übe mich also in Geduld, bleibe zu Hause. Und tröste mich mit dem Gedanken, dass das Kleid, das ich heute vielleicht kaufen würde, schwarz wäre. Und schwarze Kleider besitze ich schon, sehr viele sogar.
Malte - 8. Juli, 15:33

ich kenne einen ähnlichen Laden wie der mit dem Geigenbauer. Täglich auf dem Weg zur Uni komme ich dem Rhein entlang an Altstadtbauten vorabei. Da gibts ein altes Haus mit Holzgebälk und einer winzigen Tür. Neben der Tür öffnet sich ein kleines Fenster zur Strasse hin, und dort drinnen sitzt oft ein Schmuckmacher. Sein Arbeitstisch liegt direkt am Fenster, und man sieht von draussen nur sein von der Lampe erhelltes Gesicht, und seine geschickten Finger. Gruppen von Touristen halten oft an und schauen ihm zu. Er hebt nie den Kopf und scheint ganz versunken zu sein in seiner Welt.

blogistin - 13. Juli, 14:13

sehr schön.
ich such noch, hier. und bis ich gefunden habe, tröstet mich das selber handwerkeln. ich glaube, ich werde endlich wieder mit nähen anfangen.
blackbloc - 8. Juli, 15:50

(k/d)eine heimat gibts gar nicht

fluchtpunkt #1
fluchtpunkt-gelbsucht: http://gelbsucht.su.cx

kauf dir ne schwarze jacke und ne schwarze hose. kannst doch nicht immer in kleidern rumlaufen.

blogistin - 13. Juli, 14:13

warum nicht immer in kleidern herum laufen?
(hosen, jacken in schwarz habe ich auch genug).
jazzer - 12. Juli, 13:00

Vor dem von dir beschriebenen Gefühl graut mir auch ein wenig, wenn ich im Oktober zumindest für 5 Tage in der Woche meine Heimat, in der ich seit über 30 Jahren zu Hause bin, verlasse, um anderswo meine Brötchen zu verdienen.

Ich drücke jedenfalls fest die Daumen, dass du bald auch in der neuen Heimat einige Fluchtpunkte findest, die dir das Gefühl von Geborgenheit und Güte vermitteln.

off topic: Wg. meiner Compilations schicke mir doch am besten eine Mail, welche du gerne hättest -> jazzlounge [at] gmail [dot] com

blogistin - 13. Juli, 14:21

hmmh, ich bin seit nunmehr zwei jahren meiner heimat fern, hatte eineinhalb jahre lang zwei wohnsitze und habe fast rund um die uhr nur gearbeitet, da konnte ich nicht so viel nachdenken, vermissen und heimweh habe ich mit arbeit weggedrückt.
jetzt habe ich glücklicherweise mehr zeit. vor allem auch zum nachdenken. und das lässt eben immer wieder ein bißchen heimweh in mein hirn blubbern … komische sache, das. glücklich sein, darüber, wie alles ist, und doch heimweh im herz.
ich halte dir die daumen, dass dich das rote grausen nicht allzu oft packt in deiner arbeits-stadt.

(dankeschön!)

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