Die unersättliche Gier der Augen

Das kleine Mädchen, das jeden Morgen auf dem gerade mal drei Quadratmeter großen Balkon steht, die winzigen Hände hat sie auf die gemauerte Brüstung gelegt, ihre Nase ruht auf der linken Hand. Sie kann kaum über die Brüstung schauen. Was unten ist, sieht sie nicht. Wir sind fast auf Augenhöhe. Sie im dritten Stock, ich ebenfalls. Sie schaut mich an. Ich lächle. Ob sie lächelt, kann ich nicht sehen. Eine Weile lang schauen wir uns an. Sie hebt den Blick. Dann wendet sie sich ab und läuft schnurstracks nach drinnen, ruft „Maaaaamaaaaa …“. Mehr höre ich nicht.

Der junge Mann mit den kräftigen, schön behaarten Armen, sitzt in seiner Küche. Zweiter Stock. Ich kann auf seinen Tisch sehen, kann sehen, dass er morgens nichts isst. Viel Kaffee, noch mehr Zigaretten. Ein paar Seiten Tageszeitung scheinen sein einziger Luxus zu sein. Die Türe seines Balkons ist weit geöffnet. Er greift nach seiner Tasse, den Blick nach draußen gewandt, führt sie an die Lippen, trinkt, stellt die Tasse ab, blättert die Zeitung um, senkt den Blick aufs Papier. Keine Minute später schaut er erschrocken auf die Uhr, steht hastig auf, schließt die Balkontüre mit einem lauten Knall. Ich werde ihn erst am Abend wieder sehen.

Die alte Dame beginnt ihr Morgenritual: Sie öffnet die Balkontüre, tritt hinaus und schaut gen Himmel. Dann widmet sie sich unendliche zehn Minuten lang ihren Balkonpflanzen. Zupft welke Blätter, füllt mit der bloßen Hand Erde auf, drückt sie fest, gießt, tropfenweise nur, so, dass auch am nächsten Morgen das Verlangen der Pflanzen nach Wasser gewährleistet ist. Jetzt holt sie ihren Staubsauger, groß, gelb, laut. Sie saugt jeden Winkel ihres Balkons, die wenigen Zentimeter zwischen den Blumentöpfen auf dem Brett an der Wand, den Boden, die Balkonmöbel. Langsam, gründlich. Jeden Morgen. Wenn sie fertig ist, lässt sie ihren Blick über den Hof schweifen. Sie sieht mich. Jeden Morgen. Sie nickt. Ich nicke. Sie geht nach drinnen. Im Lichtschein ihrer Küchenlampe sitzt sie am Tisch, liest, blättert in Zeitschriften. Den ganzen Tag.

Die Frau, deren Alter so schwer zu schätzen ist, jung wirken ihre Bewegungen, ihr Körper, ebenmäßig, schlank und nur mehr eine Silhouette aus der Distanz, ist selten in der Nähe der Fenster zu sehen. Hat sie schon einmal ihren Balkon betreten? Leer ist er. Keine Pflanzen, keine Möbel. Nur ein Kasten Bier steht dort. Heute kann ich einen Blick auf sie erhaschen, wie sie, ihr Haar bürstend, das Telefon zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt, zwischen Küche und Bad hin- und herläuft. Ich sehe ihren fast regungslosen dunklen Umrisse hinter der Milchglasscheibe ihres Bades. Einen Moment später schon legt sie die Bürste auf der Arbeitsplatte ihrer Küche ab, um etwas zu trinken. Das Telefon legt sie nicht ab. Irgendwann ist sie weg.

Ich mag sie. Alle.

Und ich kann mich nicht satt sehen. Schaue immer wieder in den Hinterhof, durch die Fenster der Wohnungen gegenüber. Beobachte. Male Gedankenbilder über das Leben meiner Hofnachbarn. Erliege den Wonnen des Voyeurismus.
timanfaya - 26. April, 17:56

spätestens bei den behaarten armen kommt mir hier irgendwas bekannt vor ... (o;

blogistin - 29. April, 12:59

kennen wir uns etwa? ;-)
timanfaya - 2. Mai, 10:55

... im juni schon was vor?

ich kenne da so eine urige tankstelle im deutsch -holländischen grenzland. wir könnten es ja vielleicht noch mal so einstielen wie beim letzten mal ...
mathematikos - 2. Mai, 14:51

hübsche story

compli!
fein zu lesen,
diese story.
ich werd öfter mal in dem blog stöbern,
verlaß dich drauf.
liebe grüße aus wiener neustadt
werner

blogistin - 4. Mai, 11:19

danke.

(u-boot - lang ist's her …)

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