Raum, Zeit und 7meilenStiefel
„Können Sie meine Gedanken lesen, Herr Stiefel?“ denke ich. Höre wieder und wieder „Continuum“, denke an „Movimiento Continuo“ von Astor Piazzolla, denke an die Schneeflocken vor meinem Fenster, ich sehe sie, sehe sie ohne hinaus zu schauen, sehe sie in einem kleinen Schwarz-Weiß-Film, meinem eigenen kleinen Schwarz-Weiß-Film, sehe das Wirbeln der Flocken, die vom Wind getrieben im 30 Grad Winkel durch die Luft tanzen, freue mich, freue mich wie eine Schneekönigin über die bewegten Bilder auf der Leinwand meiner Lider. Und dann, nach vier Minuten wundervollen Continuums dieser eingängig und fast schon dramatisch schlicht komplexen Melodie, sehe und höre ich ein paar Takte lang Sonnenschein, ein paar Strahlen nur, bevor das Stück wieder ins Continuum zurückkehrt, Herr Papaux scheint nun auf sein Schlagwerk ein zu peitschen, sanft, sehr sanft.
Ich stecke in einem Raum-Zeit-Kontinuum, im Gleichschritt mit dem Christoph Stiefel Trio höre, atme, denke ich, seit Tagen schon, seit ich die Platte zum ersten Mal hörte, zum ersten Mal den Namen Christoph Stiefel Trio las.
Ich höre "Continuum" wieder und wieder und wieder. Immer wieder kommen mir meine Lieblingsstücke von Esbjörn Svensson in den Sinn, immer wieder verwerfe ich diesen Gedanken. Denke für einen Moment an das Brad Mehldau Trio, an Herrn Piazzolla, an The Bad Plus, an Medeski Martin Wood. Und, als könne ich mit einem Tippen auf die Repeat-Taste all diese Gedanken auslöschen, höre ich wieder und wieder "Continuum".
Wählerisch und verwöhnt bin ich, wählerisch und verwöhnt durch viele viele wundervolle Platten in meiner Sammlung, durch viele viele wundervolle Live-Konzerte, wählerisch und verwöhnt und zweifelsohne ebenso kritisch, ja bisweilen sogar misstrauisch, wie begeisterungsfähig.
Und jetzt? Jetzt sitze ich hier mit meinem laienhaften Musikwissen, mit zwei Händen, die vor einigen Jahren allenfalls "Stormy Weather" oder „The Twelve Days of Christmas“ einigermaßen fehlerfrei klimpern konnten, einem Paar guter Ohren, einem Kopf voller Musikstücke und vielen vielen „Jener Augenblick, als Dan Berglund…“ und „Der Moment, als Luke Flowers…“-Erinnerungen, abrufbar, jederzeit, im Sinn.
Sitze hier und ärgere mich, nie Musik studiert zu haben, ärgere mich darüber, meine Empfindungen beim Hören nicht mit Fachbegriffen ausdrücken zu können. Verwerfe den Ärger, verwerfe alles, was sich da gerade in meinem Kopf türmt. Setze Kopfhörer auf, laut, sehr laut will ich hören, was die Herren Stiefel, Papaux und Moret machen, mit mir machen.
Das Ergebnis? Repeat. Oder: Continuum. Acht Minuten und 16 Sekunden, die süchtig machen, acht Minuten und 16 Sekunden Glück und Lachen und Drama und Melancholie und Leichtsinn und Schwermut. Acht Minuten und 16 Sekunden, die meine Gedanken sind, meine Gefühle, meine intimsten Wünsche, meine Sehnsucht. Acht Minuten und 16 Sekunden Leben.
Nach acht Mal hören kann ich mich losreißen, losreißen von "Continuum", höre das erste Stück des Albums „7meilenStiefel“, Seeking Solid Ground. Und schon stecke ich wieder mittendrin, mittendrin im Kontinuum des Lebens, möchte Herrn Stiefel wieder die Fähigkeit des Gedankenlesens unterstellen: "Woher kennen Sie mein Tempo, das Tempo meines Lebens?"
So plötzlich und rasant wie sie da ist, diese Melodie, so schnell rast sie weiter, immer weiter, einfach und doch komplex, immer weiter, egal was passiert, immer weiter, weiter wie das Herz schlägt, solange es schlägt, weiter, aufgeben gibt es nicht, niemals. Und so klingt das Stück aus, leise, wie ein leichtes Klingeln gar und klingt doch weiter, immer weiter in meinem Kopf, weiter in vielen großen, kleinen, schnellen, ruhigen, festen Schritten durch dieses Album bis zum letzten Stück, Home.
Angekommen. Angekommen in dieser Musik bin ich, seit dem allerersten Hören, fühle mich darin zu Hause, wohl, sehr wohl. Was das Christoph Stiefel Trio mit meinen Ohren, meinem Hirn macht, kommt mir so vertraut vor, erinnert mich an so vieles und ist doch so neu.
„Isorhythm Nr. 12“ lese ich hinter dem Namen des ersten Stücks, erfahre im Booklet, dass Isorhythmen gleiche Rhythmen sind, die mit verschiedener Melodik kombiniert werden, „wobei sich dadurch für den Hörer absolut ungewohnte rhythmische, harmonische wie auch melodische Überlagerungen der verschiedenen Ebenen ergeben“.
Isorhythmen also. Zu gerne würde ich wissen, sozusagen wissen mit Brief und Siegel, Brief und Siegel eines Tonmeisters vielleicht, ob nicht 90% der Musik, die ich in meiner Sammlung habe, diesem Prinzip unterliegt.
Isorhythmik ist die Rhythmik des Lebens, meines Lebens. Und so wie mich das Christoph Stiefel Trio mit 7meilenStiefeln durch elf atemberaubend schöne Stücke treibt, mich die Platte nun schon zum 26. Mal innerhalb von vier Tagen hören lässt, so wie ich immer wieder staune und die Luft anhalte, staune über eine wunderschöne Interpretation von „The Girl from Ipanema“, so oft ich immer wieder die gleichen Stellen anspiele, immer wieder die gleichen Stücke höre, mit Kopfhörer, ohne Kopfhörer, wieder und wieder, leise, laut, so sehr festigt sich ein Wunsch, ein einziger Wunsch: Bitte, Herr Stiefel, packen Sie die Herren Moret und Papaux in einen Wagen, Flieger, Zug, Bus, wasauchimmer, und geben Sie auch hierzulande Konzerte. Bitte. Denn, pardon, ich bin voll auf Stiefel.
Wer’s kurz mag: Kaufen!*
Wer mehr will: Lesen.
Wer zweifelt: Weiterklicken!
*Ab Mai beim Plattenhändler Ihres Vertrauens.
(Danke, vielen Dank, liebe C. für Ihren Gedanken: „…eine neue CD, von der ich mir ziemlich sicher bin, dass sie Ihnen gefällt.“ und die damit verbundene Freude des frühen Hörens.)
blogistin - Dienstag, 28. Februar 2006, 13:54