Freitag, 30. Juni 2006

Intimität, unbekannt

Lieber Dr. Unbekannt,
ich stehe in Ihrem Wohnzimmer, in jenem Raum, den ich in Gedanken oft das Nebelzimmer nenne, Nebelzimmer, da durch die grauen Gardinen und die verschmutzten alten Fenster zwar Licht herein dringt, doch Licht mag ich nicht bezeichnen, was grau und fahl und kraftlos hier in diesem Ihrem Wohnzimmer ankommt. Stehe in Ihrem Wohnzimmer, dort beim Schreibtisch, dessen Schublade aufgebrochen wurde, ich weiß nicht von wem, und Sie, lieber Dr. Unbekannt, Sie wissen es sicherlich noch viel weniger, ich, ich kann zumindest vermuten.
Ich trage Handschuhe, cremefarbene Baumwollstrickhandschuhe mit kleinen roten Noppen, die dem Greifen mehr Gripp verleihen sollen, doch wenn ich eine der Zeitungen von Ihrem Tisch aufnehme und die fünf Millimeter dicke Staubschicht darauf mit der Innenfläche dieser Handschuhe wegwischen will, dann bremsen diese kleinen Noppen meine Hände auf dem Papier. Also wische ich mit dem Handrücken. Wische Staubschichten von Zeitungen, Zeitschriften, von Reklameblättern, Reklame aus den 60er-Jahren, als Werbeprotagonisten noch illustriert wurden, Frauen nur mit der Vorsilbe Haus- existierten und weiße Schürzen trugen. Wende mich zu Ihrem Bücherschrank, nicht Rücken an Rücken stehen sie in den Regalen, kreuz und quer liegen sie über- und nebeneinander, dazwischen allerlei Schmuckkästchen, Pappschatullen, eine Lupe, Stoffreste, Prospekte, Notizzettel. Wie ein Schatz suchendes Kind fühle ich mich, als ich die erste Schachtel öffne, leer ist sie. Nehme ein graubeigefarbenes Notizheft von einem Stapel exakt gleicher Notizhefte, ordentlich aufeinander gelegt. Auf dem Deckblatt steht Ihr Name, Dr. Unbekannt, und „1.3.1962 bis 15.6.1962, 8.50 Uhr“ . Ich streife meine Handschuhe ab, öffne das Heft, lese, schwerlich nur, kann Ihre Schrift kaum entziffern, lese, wann Sie morgens aufstanden, was sie gegessen haben, wann Sie das Haus verließen, mit welcher Bahn Sie wohin fuhren und was das Ticket gekostet hat. Lese, dass Sie ein Gespräch belauscht haben, atme langsamer, je langsamer ich atme, desto stärker spüre ich meinen Herzschlag, ich schlucke, jetzt meine ich fast, mein Herz zu hören. Ich lese in Ihren Gedanken, den Gedanken, die Ihnen selbst heute vielleicht fremd vorkommen würden, Gedanken, an die Sie sich vielleicht nicht einmal erinnern, Gedanken, die Sie vielleicht nie mit jemandem geteilt haben, nicht hier im Nebelzimmer, dem Zimmer, das schon lange nicht mehr zu Ihrem Leben gehört, dem Zimmer das zu jenem Haus gehört, das Sie schon lange aufgegeben, ja, verlassen haben, Gedanken, die sie vielleicht nie und nirgendwo mit jemandem geteilt haben. Lese in Ihren Tagebüchern, nein, ich schäme mich nicht, es gehört dazu, wenngleich immer wieder begleitet von Überwindung, es gehört dazu, wenn man ein altes, längst verlassenes Haus wieder zu neuem, frischem, fröhlichen Leben erwecken will.
Ich lese in Ihren Tagebüchern und mit einem Mal hängt sich ein Gedanke, eine Sehnsucht, ein Begreifen, wie ich noch nie zuvor begriffen habe, an die Windungen meines Hirns: Intimität. Nichts zerbrechlicher, nichts wertvoller, nichts hütens- und bewahrenswerter, nichts mehr als Intimität ist es, wonach ich mich sehne. So sehr, so lange schon. Nach dem Augenblick zwischen dir und mir, wer immer du bist, ein Augenblick, den nur wir beide teilen, nach dem Foto, auf Papier, das ich dir gebe, nur dir, wer immer du bist, nach den Gedanken, die ich aufschreibe, nur für mich, und die ich dann, vielleicht, irgendwann einmal, dir gebe, wer immer du bist, weil ich sie teilen möchte, meine Gedanken, mit dir und mit niemandem sonst. Nach einem hinter vorgehaltener Hand geflüsterten „Hey, du, pssst, ja, genau, du, hast du vielleicht einen Plattentipp für mich?“ in der düsteren Ecke einer noch viel düstereren Bar, nach der Wahrheit von Begriffen wie „Geheimtipp“, nachdem die Werber das Wörtchen „Exklusiv“ , sicherlich ein wenig wehmütig, abgehakt haben, halten sie sich noch ein Weilchen an der Wirkung von Geheim- fest. Nach deinem Blick in meine Augen, lang, fest, wer immer du bist, wo immer wir sind, nur du. Und ich. Intimität.
Ich atme den seltsamen, alten, staubigen, grauen Geruch im Nebelzimmer, schließe Ihr Tagebuch, lieber Dr. Unbekannt, und möchte mein Leben abstreifen, mein Leben mit Kamera-immer-dabei, mit Blog, mit Flickralbum, mit Partner mit Kamera-immer-dabei, mit Blog, mit Flickralbum. Möchte mein Leben abstreifen, einen Moment nur, einen klitzekleinen Moment nur, denn teilen, Freude teilen, mitteilen, all das gehört so sehr zu mir wie die unbändige Sehnsucht, Sehnsucht nach Intimität.

Ich danke Ihnen, lieber Dr. Unbekannt, dass Sie mich mir wieder ein kleines Stückchen näher gebracht haben.

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